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Julie und die läppische Zeit

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Textauszüge

Julie und die läppische Zeit Hier lernte ich den Menschen kennen, der mein Leben bis zum äußersten anstachelte, der mich ausreizte, mich vernichtete und wieder aufrichtete, wie einen Phönix aus der Asche:
Deshalb ist Julie bei mir. Julie ist stärker als die Zeit und ihr Ideal stärker als der Tod. Das weiß ich heute. Die Gespräche im Park waren die erste Klasse in ihrer hohen Schule, die das Leiden lehrt, die Hingabe predigt und dem Leben alles abverlangt – alles!

„Woran glaubst du, Julie?“
„An die Unendlichkeit.“
„Ich wusste da würde irgendsoetwas kommen.“
„Was soll das heißen?“
„Irgendetwas Abstraktes, etwas, das man interpretieren muss und das beim Interpretieren verschmiert, – schmilzt und zerfließt wie Butter in der Sonne.“
„Nenn es doch Gott, wenn du magst. Meiner Ansicht nach sehnen sich alle Menschen nach endloser Geborgenheit. Geborgenheit die niemals aufhört, während um sie herum das Chaos wütet. Einen Garant für die Ewigkeit ihrer Seelen. Aber sie können ihre Sehnsucht nicht beim Namen nennen und schaffen sich deshalb Bilder, die sie freilich taufen und betiteln. Götzen haben den Vorteil, dass man sie fixieren kann. Das Problem ist, dass man das Ziel der Sehnsucht in Wahrheit nicht formulieren kann, sondern nur fühlen. Schon der Versuch, das Gefühl zu formulieren, zerstört das Gefühl selbst. Du sollst dir kein Bildnis machen, weil es nichts taugt. Mystische Hingabe ist besser. Der Buddhismus weiß eine Menge davon, die abendländische Religion ist dagegen naseweis. Ihre Lehren bleiben hohle Gesetze, die immer wieder gebrochen werden müssen, damit die Beichte den Menschen neu aufrichten kann. Es wiederholt sich in jedem Leben neu: Untergang und Wiederaufstehung. Aber die Institution erstickt das Lebendige im Dogma.“. Julie die Predigerin.

Worum ging es Julie eigentlich? Leidenschaft, Hingabe, Lust – und am Wegesrand verrecken die Artgenossen? Einersseits stellte sie die Welt der Gefühle über die Realität der Fakten, andererseits blieb sie kalt wie ein Eisblock gegenüber dem Schicksal ihrer Nächsten. Das wäre meine Aufgabe gewesen, die des Zynikers. Zugegeben, sie blieb konsequent auf der ganzen Linie: Der Mensch taugte nicht als Opferlamm, sondern hatte einfach Glück oder Pech und alles Übrige in der eigenen Hand. Der Mensch als Opfer – für einen Sarkasten wie mich war er das fast immer.

„Anders geht es nicht. Leidenschaft zertrümmert dein Leben immer wieder. Sie wird dich nicht zermürben, nein, aber sie wird dich wieder und wieder zertrümmern, und dich gleichzeitig fordern, neu von vorne zu beginnen.“

„Erkläre es mir noch einmal, Julie: Was ist Leidenschaft?“
„Leidenschaft ist die Art und Weise, in der Du lebst. Du kannst arbeiten mit oder ohne Leidenschaft, kannst nicht ohne, aber mit ganz viel Leidenschaft kreativ werden, kannst nicht ohne, aber mit maßloser Leidenschaft lieben. Je mehr Hingabe, je mehr du von dir gibst, desto mehr Ewigkeit ergattertst du. Je mehr, desto tiefer fällst du aus höchster Höhe. Und eines weiß ich ganz gewiss: Leidenschaft schreibt keine glatten Lebensläufe!“

Ich war machtlos gegen ihre Worte. Diese Philosophie, die sich da vor mir aufbäumte, war so voller Enthusiasmus, war so voll von Lebensbejahung und stand dabei dem Lebensalter so gleichgültig gegenüber – eine Einstellung, die mein zynisches Weltbild im Keim erstickte. Für mich war immer alles mit Zweifeln behaftet. Aber die da saß auf dem Thron der Schöpfung unanfechtbar erhöht.

Diskussionen über Gefühle waren mir lächerlicher Tand. Die erste wirkliche Liebeserklärung war die Mutterbrust, die jeder verstand. Aber die kam nicht wieder und der erste, in Worten formulierte Antrag an das andere Geschlecht war der kultivierte Abschied von der Fähigkeit, sich einem Menschen ohne wenn und aber hinzugeben. Was der andere von seinen Gefühlen zu formulieren versuchte, hatte sowieso noch nie einer kapiert. Dessen war ich mir damals sicher.

„Feuchtigkeit erregt mich. Nässe macht mich an. Ich möchte immer von Feuchtigkeit umgeben sein, wie ein Fötus im Mutterleib, weich, nass und warm. Hörst du das Rauschen des Meeres? Das Meer ist Nässe im Überfluss. Eine verschwenderische Gebärmutter, in der man ersaufen kann.“
„Zieh mich mit hinab.“

„Ich will kein heiteres Geplänkel. Die Menschen buttern sich damit zu, um der Angst und wirklicher Leidenschaft zu entgehen. Aber ich will den Schmerz und die Lust, ich will sie, sie sind mein Leben. Ich habe einmal alles verloren und seither ist mir ebendieses Leben zum Verplaudern zu knapp. Wer wirklich Hunger hat, denkt nicht über kalorienarme Kost nach, sondern will essen, will leben.“

 

Ein Bild schränkt ein und eine Geschichte schränkt ein. Das Konkrete wird der Menschenseele nicht gerecht. Nur das Gefühl, so wusste Julie, ist eine Chance, dass die Seelen, die konstanten, eindeutigen, unveränderbaren, unwiderruflichen Partikel im Menschen, einander berühren. Alles andere bleibt stecken in der Interpretation von zufälligen Erscheinungsformen. Zufällig deshalb, weil all unser Handeln immer nur verschiedene Facetten derselben Seele offenbart. Unsere Biographie ist nur eine Realisation von Millionen möglichen. Ansichten änderten sich, Charaktere wachsen, Handlungsmuster werden gelernt, – und dennoch bleibt etwas Konstantes, Unzerstörbares – die Wurzel, die Seele. Sie allein ist das ewige Fundament, auf dem Menschen sich zu unverwechselbaren Originalen entwickeln. Sie allein ist auch der Urquell einer Liebe, die nicht an Bedingungen geknüpft ist. Sie allein macht das endlose Ziel der Leidenschaft, die absolute Hingabe, erstrebenswert. Und sie alle, die Millionen von Seelen, die wir nicht zu sehen bekommen, aber, wenn das Lebenspendel weit ausschlägt, in glücklichen Augenblicken, die den Rest läppischer Zeit aufwiegen, fühlen können, spüren dürfen, – sie alle machen das Leben aus, geben ihm Sinn und erhöhen es zur Krone der Schöpfung. Julie wusste das.

Harmonie im Leben ist der Kitsch, der uns gelingt, wenn wir das Pendel zum völligen Stillstand bringen. Erlebte Empfindungen sind nicht harmonisch, sondern einseitig positiv oder negativ. Wir lachen oder weinen, tanzen oder trauern, lieben oder hassen. Und wir hassen nicht mehr, als wir geliebt haben. Das Pendel schlägt nach beiden Seiten mit demselben Schwung, derselben Wucht. Das lineare Band der Zeit produziert Stimmungen oft nur als scheinbar chaotisches Stückwerk. Wir trudeln in den Wogen unserer Emotionen, ohne die Ursache und das Ziel der Strömung zu kennen.

Manchmal hatte ich sie ganz klar vor Augen – (die) extremste Konfiguration, die unbedingte, absolut unanfechtbare Liebe.
„Ich nehme dir alles. Ich nehme dir deinen Besitz und die Kinder, ich nehme dir deinen Stolz und deine Träume. Ich verachte dich, verwünsche dein Leben, dein Handeln und Denken, deine Ideale, deine Existenz. Ich stoße dich von mir. Die Erinnerungen an unsere gemeinsame Vergangenheit tauche ich in schwarzen Groll. Meinen Hass auf dich schüre ich bis zur Weißglut. Du bist der Inbegriff all dessen, was mir zuwider ist. Du bist Schmutz und Dreck, stinkender Abschaum, ein widerliches Vieh. Ich nehme dir alles, und wenn du dich wehrst, deinen Atem. Sag, dass du mich aufgibst, sag es mir, sag es!“
„Ich liebe dich bis zum letzten Zug meines Atems und darüber hinaus. Das macht mich zu dem, was ich bin. Das allein vermagst du mir nicht zu nehmen!“
Der Klimax der Treue. Die Frage nach der letzten Konsequenz. Die Entscheidung über das Leben hinaus. Das Bekenntnis eines unzerstörbaren, unantastbaren, unveräußerlichen Willens, der Konstante des Charakters, das Fundament der Persönlichkeit, die Seele – das, was den Menschen und nur diesen einen Menschen ausmacht. Eine Fiktion?

Nirgendwo auf der Welt liegen Glück und Leid so nah beieinander wie auf der Gynäkologischen. Leben geben – Leben nehmen. Kinder verlassen die Leiber sterbender Mütter, tote Föten mit Zangen aus lebendigen Körpern gerissen. Die Gebärmutter wird zur Stiefmutter, wenn sie der gewachsenen Geborgenheit mit pressenden Wehen ein jähes Ende bereitet und einen traumatischen Exodus einleitet, der nicht selten im Exitus endet. Oder der erlösende, alles Erlittene aufwiegende Schrei nach neuem Leben, nach Luft zum Atmen, Schrei nach Liebe, während hinter der nächsten Tür das neue Leben nach erfolgloser Beratung einfach abgesagt wird. Leben geben, leben nehmen –und darüber Entscheidungen fällen, deren Konsequenz die Verantwortlichen ein Leben lang bluten lässt. Die Gynäkologische ist die Brutstätte der Erfüllung und des Grauens zugleich. Folterkammer und Himmelstor, Schlachthof der Leidenschaften und Sehnsüchte.

Ich sehe auf die Kurve des Wehenschreibers und die Absurdität dieser Maschine schießt mir wie ein Blitz durch den Kopf: Er misst die Stärke des Schmerzes. Wer misst das Glück auf welcher Skala? Unten links an dem medizinischen Gerät glänzt das Markenzeichen des Herstellers. Die Manipulation unserer Wiedererkennungswerte verfolgt uns bis in den letzten Winkel, wo wir, nackt aus gezogen, unser innerstes nach außen stülpen. Vielleicht wird der vor Schmerz rasende Blick der Mutter das einprägsame Logo unbewusst erhaschen. Vielleicht wird das gefällige Schriftbild des als fortschrittlich und menschenfreundlich angepriesenen Unternehmens ihr Zuversicht und Vertrauen in die sie überwachende Technik einflößen. Vielleicht wird sie sich irgendwann einmal, unbewusst, in einer Kaufentscheidungssituation an ebendiesen Schriftzug erinnern und sich – in welcher Funktion auch immer – für den Erwerb eines Produktes ebendieser Marke entscheiden. Dann hat es sich gelohnt, jedes einzelne Produkt gewissenhaft und prägnant zu signieren. Dann wurde der Schriftzug erfolgreich positioniert. Falls das Kind nicht stirbt und die Mutter infolgedessen ein von niemandem beabsichtigtes Vorurteil über diesen Anbieter fällt. Möglich ist das alles. Nach dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit genügt es einfach, dass sie die Marke kennt, um sie im Augenblick der Kaufentscheidung aktualisieren zu können und sie als ein akzeptables Angebot auf die Liste der für sie zur Wahl stehenden Produktpalette setzt. Das genügt. Scheinbare Nebensächlichkeiten können unsere Entscheidungen und damit unser Leben beherrschen. Unwichtig für die in ihren Schmerzen versinkende Julie.

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