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Ein-Mann-Theaterstück in fünf Akten

Der Plot

1. AKT

Blackout PlotEin Mann kommt nach Hause und liest seine Post. Eine Vorladung setzt ihn in Kenntnis, dass er als Augenzeuge eines Verkehrsunfalls benannt ist und vor Gericht aussagen soll. In einem Telefongespräch mit seinem Freund, der Anwalt ist, räumt er zwar ein, noch am Unfallort seine Sicht der Dinge zu Protokoll gegeben zu haben, lehnt es aber entschieden ab, seine Angaben als Zeuge vor Gericht zu wiederholen. Er sei außerstande, allein aufgrund seiner Erinnerung glaubwürdige Aussagen zum Unfallgeschehen zu machen. In seiner Empörung darüber, dass man so etwas von ihm verlangt, nimmt er das Publikum selbst in die Zeugnispflicht: Nach Anhörung seiner Argumente sei es deren Schuldigkeit, seine Verweigerung als rechtens anzuerkennen und durch ihr Urteil zu beglaubigen.
Dann zählt er seine Argumente auf:

  • Die vorschnelle Aussage suggeriere ihm den Glauben an seinen unmittelbaren Eindruck und verhindere so die objektive Einschätzung des Geschehens.
  • Die am Unfall beteiligte Frau habe sein männliches Interesse geweckt und mit ihren Reizen vom wahren Sachverhalt abgelenkt.
  • Es sei einfach unwahrscheinlich, dass er seine Aufmerksamkeit ausgerechnet auf die flüchtigen, für ihn unwichtigen, aber für die Schuldfrage relevanten Aspekte gelenkt habe.
  • Seine Erinnerung sei spekulativ, weil getrübt durch Wahrscheinlichkeit und Vorurteile, derer er sich nicht erwehren könne. So zum Beispiel dem Umstand, dass ebenso unerfahrene wie forsche Autofahrer zu Übertretungen neigten.

Aufgrund dieser Argumente sei klar, dass Erinnerungen nichts bezeugten und seiner Vorladung deshalb widersprochen werden müsse.

2. AKT

Um die Unzuverlässigkeit des Abrufens erinnerter Erlebnisse zu veranschaulichen, fordert er das Publikum auf, sich Ihrer ersten drei Worte nach dem morgendlichen Erwachen zu erinnern. Die Schwierigkeit dieser Aufgabe bestehe gerade in dem irrelevanten Kriterium des Abrufs: Weil niemand seine Erinnerungen maßstabsgerecht abspeichere, sei es auch nicht möglich, sie nach geordneten Parametern abzurufen, wie zum Beispiel nach der Uhrzeit. Mögliche Lücken in den erinnerten Sequenzen müssten in Kauf genommen werden. Und das mache den Augenzeugenbericht unglaubhaft.
Er geht noch weiter: Darüber hinaus, dass die Erinnerung ein unvollständiges Bild liefere, seien wir auch außerstande, die Dinge um uns überhaupt objektiv wahrzunehmen. Anhand eines Posters in seiner Wohnung - Porträt eines jungen Mädchens im Pop-Art-Stil - veranschaulicht er seine These: Dieses Mädchen sei ebenso Kunstwerk wie emotionaler Schlüsselreiz, die Linien ihrer Gesichtszüge einerseits nichts weiter als chaotische Bildpunkte, andererseits ein vom Betrachter als aufreizendes Lächeln wahrgenommenes Muster.
Im Gegensatz zu der künstlichen Intelligenz des auf seinem Schreibtisch stehenden Computers, der seinen Input eindeutig nur auf einer Datenebene verarbeite, sei der Mensch in der Lage und gezwungen, sich auf verschiedenen Bedeutungsebenen zu bewegen. Das mache den Menschen aus. Und das impliziere Interpretation, welche als Beweismittel nicht zugelassen werden dürfe.

3. AKT

Er setzt sich an seinen Schreibtisch, um einen Brief an das Gericht zu schreiben, will also gegen die Vorladung schriftlich Einspruch erheben. Beiläufig teilt er dem Publikum mit, dass es seine Mutter war, die ihn stets gemahnte, wichtige Vorhaben ohne Aufschub in die Tat umzusetzen. Damit er sie nicht vergesse. Ein mütterlicher Ratschlag, dessen sträfliche Missachtung ihm ein Leben lang in Erinnerung geblieben sei. Während die Dinge des täglichen Lebens trotz aller Vorsichtsmaßnahmen immer wieder verlegt, vergessen und übersehen würden, komme allein das schlechte Gewissen niemals abhanden.
Während er noch immer vor dem unbeschriebenen Display seines Computers sitzt, weil ihm nichts einfällt, erklärt er seinen Zuhörern die Funktion von Textbausteinen, derer er sich bei der Erledigung seiner Korrespondenz für gewöhnlich bedient. Anhand einiger Beispiele demonstriert er, wie gängige Floskeln mittels ihrer Initialen codiert und abgerufen werden können. Das vereinfache zwar das Formulieren, überfordere aber wiederum das Gedächtnis, weil die gesuchten Codewörter immer wieder in Vergessenheit gerieten. Dann müsse man nachschlagen, was unbequem sei und ihn am Sinn dieser Textbausteine zweifeln lasse. Trotzdem entwirft er die Utopie einer besseren Welt, in der durch die Verbesserung der digitalen Systeme alle möglichen Formulierungen elektronisch gespeichert und jederzeit abrufbar wären.
Dann tippt er spontan den ersten Satz seines Briefes und lobt die Intuition seines Tuns. Was ihn zum nächsten Gedanken führt: dass jede, auch noch so spontan erscheinende, Eingebung nichts weiter als ein abgeleiteter Gedanke sei, eine Assoziation im weitesten Sinn. Er selber führe es vor, als der Mann auf der Bühne, der von einem Gedanken zum nächsten gleite. Von eben dieser Gedankenkette könne sich keine Überlegung lösen, was die Freiheit der Denkens rigoros beschneide. Zur Veranschaulichung fordert er seine Zuhörer auf, einen zufälligen Gedanken zu denken, und bestreitet zugleich, dass dies irgendjemandem im Publikum gelänge. Die Erinnerung sei der sich abspulende Film einer solchen Gedankenkette, in der sich eingeschränkte Schnappschüsse des realen Geschehens aneinanderreihten. So auch im Augenzeugenbericht. Die Erinnerung sei eben keine Liveübertragung und deshalb als Beweismittel unbrauchbar.

 

4. AKT

Der Mann auf der Bühne erklärt sich jetzt außerstande, den Brief ans Gericht zu schreiben. Die Sprache, so erklärt er, sei ohnehin kein adäquates Mittel, seine Eindrücke zu kommunizieren. Das Gehirn sei in erster Linie ein Fotoarchiv. Zur Demonstration zeigt er eine Fotografie: ein Porträt seiner Mutter. Zwei Sekunden der Betrachtung genügten, um dasselbe Gesicht unter vielen anderen wiederzuerkennen. Trotzdem sei niemand unter seinen Zuschauern in der Lage, das Gesehene in Worte zu fassen. Es sei einfach nicht möglich, Bilder verbal zu formulieren. Was den Augenzeugenbericht hinfällig mache.
Im zweiten Schritt seiner visuellen Demonstration zeigt er das Porträt seiner Mutter als überzeichnete Karikatur. Das Gesicht wird zur Fratze, ist aber immer noch als ein Ausdruck derselben Person zu identifizieren. Er weist seine Zuschauer darauf hin, dass dem Zeichner im Gegensatz zum Fotografen nur wenige Striche genügten, um die zur Identifikation relevante Information zu verpacken. Jedoch könne niemand sagen, wo genau diese Information sich befinde. Bilder seien eben Kompositionen, genau wie Melodien, die sich nicht in Ihre Einzelteile zerlegen ließen.

Wieder und wieder kehrt er zum selben Thema zurück, was sich auch in den gezeigten Bildern widerspiegelt: seine Mutter. Ihre Visage biete ihm den nicht benennbaren Schlüsselreiz, den Code, der unzählige Assoziationen auslöse. Das funktioniere nach demselben Prinzip, in dem ausformulierte Textbausteine codierte Information entschlüsselten. Allerdings seien die Inhalte dieser Assoziationen nicht absehbar. Das sei überhaupt das Schlimme, dass wir keinen Einfluss hätten auf unsere Erinnerungen, keine Macht darüber, wie und wo wir sie ablegten, oder wann wir sie ebenso unwillkürlich wieder abriefen. Der Beweis hierfür sei augenblicklich nachvollziehbar: Niemand seiner Zuschauer sei in der Lage, den Augenblick selbst in sein dauerhaftes Langzeitgedächtnis zu befehlen.
Er entwickelt seinen Gedanken weiter vom Abspeichern zum Abrufen. Dieses undurchsichtige Langzeitgedächtnis stehe uns als Erinnerungsarchiv zur Verfügung, auf dessen Daten wir nach Bedarf zurückgreifen. Das Problem daran sei nun wiederum, dass neu hinzukommendes Material in erlernte Erwartungsmuster eingepasst werde. Der zwanghafte Wunsch nach Sinn und Bedeutung nötige uns, das wahrgenommene Geschehen mit bekannten Mustern unseres Archivs zu vergleichen und entsprechend einzuordnen. Er beschwört damit ein Dilemma herauf: Denn erlernte Irrtümer setzen sich auf diese Weise immer weiter fort. Wir seien unentwegt befangen durch Voreingenommenheit, indem wir einfach nur sehen, was wir sehen wollen: in dem Porträt des Postergirls die Projektion unserer eigenen Gelüste und im Straßenverkehr die Schuld des aggressiven Autofahrers.
Und die begangenen Irrtümer reihten sich Tag für Tag aneinander, wie das Strickmuster einer Serie im Vorabendprogramm, in dem alle Rollen nach gut und böse auf das Ensemble verteilt seien.
Doch diese ständigen Wiederholungen, so beklagt er, seien - im Fernsehen wie im Leben - auf Dauer öde und langweilig. Zwar seien sie notwendig, um Erfahrungen überhaupt verwertbar zu machen, in unserer Erinnerung jedoch spielten sie nur noch eine untergeordnete Rolle. Allein das Neue, das Überraschende werde noch ausführlich abgespeichert. Er zeigt das Bild einer Wüstenlandschaft, in der eine fruchtbare Oase den Ausbruch aus dem Alltäglichen symbolisiert. Ein Urlaub sei zum Beispiel eine solche Oase, die uns detailliert in Erinnerung bleibe. Aber die so gesetzten Prioritäten brächten noch mehr durcheinander mit sich, indem sie die realen Abläufe neu strukturierten. Die Brunnen der Oasen seien nicht einfach so vorhanden, sondern würden als solche erst gebuddelt.
Er führt den Gedanken mit weiteren Bildern aus und kommt über das Postermädchen wieder zurück zu seiner Mutter, deren Person aus den genannten Gründen nur noch das Abbild seiner unwillkürlichen Assoziationen sei, eine fiktive Identität seiner eigenen Interpretation.

5. AKT

Nachdem er sich offensichtlich schon zu Bett begeben hatte, kehrt der Mann noch einmal auf die Bühne zurück: Er hat etwas vergessen, das er jetzt nachholt. Er bereitet sein Frühstückspaket für den nächsten Bürotag vor, womit er wiederum einen Auftrag seiner Mutter befolgt: Die Vorbereitungen für den morgigen Tag schon am Abend zu erledigen. Damit sie nicht vergessen werden. Dabei erinnert ihn der Kaffeefilter in seiner Hand an eine Szene aus seiner Vergangenheit: den letzten Plausch mit Erika, seiner Ex-Freundin. Die habe ihn verlassen, weil er sie nicht heiraten wollte. Noch nicht - nach fünf Jahren. Er sei ihr zu schwammig gewesen, habe sie behauptet. Aber er sei der Meinung gewesen, dass man das Wechselbad einer fünfjährigen Liebesbeziehung schlecht mit einem Treueschwur bilanzieren könne. Die Trauzeugen könnten umfallen. Wahrscheinlich, so diagnostiziert er, habe sie einfach andere Erfahrungen gesammelt und auf verschiedene Erinnerungen zurückgegriffen. Deshalb habe man aneinander vorbeigeredet.
Er kommt zu dem Schluss, dass Erika ihm nichts zugetraut habe, wie all die anderen Frauen auch. Er beklagt sein Dilemma: Die Frauen haben ihn verlassen wegen seiner Vorbehalte, die sie doch selbst verursachten, indem sie immer alles besser wussten.
Er kommt von diesem quälenden Gedanken einfach nicht los. Das seien die Dämonen: Erinnerungen, die einen niemals loslassen. Während das, was man festzuhalten bemüht sei, sich allzu leicht verflüchtige, weiche das, was man gerne aus seinem Gedächtnis streichen würde, nicht aus dem Bewusstsein. Wie beim Vokabellernen in der Schule: Während die Fremdwörter trotz allen Bemühens immer wieder in Vergessenheit gerieten, bleibe der Prüfungstermin selbst stets präsent. Ein Schubfach unserer Erinnerung, das sich wie von selbst öffne. Und in diesem Schubfach könnten sich Personen befinden, die Mutter zum Beispiel, oder die Geliebte - oder beide gemeinsam, was einer fatalen Verwechslung entspräche. Die Verwechslung, so konstatiert er, sei der Kardinalfehler der Erinnerung überhaupt.
Mit einem Rundumschlag setzt er zur letzten Runde an, indem er feststellt, dass unsere Identität und unsere Erinnerungen ein und dasselbe seien. Das Gedächtnis sei der Kompass, mit dem die Menschen ihren Standort bestimmten. Nur mit diesem Instrument könnten wir uns einreihen in das Kausalprinzip, in die Kette von Ursachen und Wirkungen. Er lässt eine Tasse zu Boden fallen, deren Zerstörung er in seinen eigenen Gedankenfluss einreiht. Seine Zuhörern unterstellt er, sich desselben Prinzips bedient zu haben, als sie nach ihren ersten drei Worten am Morgen fahndeten: Sie hätten sich den Ablauf ihres Tagesbeginns vergegenwärtigt, um dort die Motivation für ihre erste Äußerung aufzuspüren. Und Motivationen seien eben die Ursachen menschlicher Äußerungen.
Er zeigt ein Bild von schwimmenden Seerosen, mit dem er seinen metaphorischen Vergleich der Erinnerungsoasen in einer Wüste des vergessenen Alltags modifiziert: Entscheidend ist nunmehr, dass die Rosen, also die Oasen der Erinnerung, sich unter der Oberfläche aneinanderranken. Sie schwimmen nicht ziellos im Zeitbrei herum, sondern sind durch das Prinzip von Ursache und Wirkung aneinandergekettet, wie die Assoziationen der Gedankenkette. Jede Erinnerung steht in Relation zu einer anderen. So würden sich die Fehlleistungen aus den elementaren Einheiten ableiten und zu kosmischen Irrtümern auswuchern.
Die Idee der relativen Beziehungen führt ihn zurück zu seinen persönlichen Beziehungen - zu Erika, zu seiner Mutter. Ausgerechnet für seine Dämonen sei er selbst keine Ursache wert. Seine Beteuerungen lösen bei ihnen keine Wirkungen aus, verhallen in einem Vakuum. Man schenkt ihm keinen Glauben. Und das macht ihn rasend. Bis er umkippt.
Plötzlich will er den Spieß umdrehen, Stellung beziehen - vor Gericht und im Leben überhaupt. Zeugnis ablegen gegen seinen Nächsten, Ursache sein für eine gnadenloses Urteil. Nicht mehr orientierungslos herumpaddeln, sondern das Steuer in die Hand nehmen. Endlich.
Er öffnet das Fenster, um Luft zu schnappen. Sein Blick fällt auf die Straße unter dem Fenster. Es ist ein Unfallgeräusch zu vernehmen. Aber er lässt sich nicht mehr aus der Ruhe bringen, schließt das Fenster, in dem Wissen, dass die Sonne morgen wieder aufgehe, weil seine Erinnerung ihn das so lehrte. In der Regel sei das eben so.

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