Vermeintliches
Schicksal
Blutrot –
Textauszüge
Der Überfall
Bevor
Nicole in dieser Nacht einschlief, dachte sie an Micki zurück,
erinnerte sich an schöne Stunden mit ihm und den anderen und
überlegte, was er in Zukunft mit seinem Leben anfangen würde.
Zur selben Zeit lag Michael Michaelis in einem unruhigem Schlaf
neben dem Mädchen, das er in jener Bar kennen gelernt hatte.
Ohne Schminke und im Schein einer nackten Glühbirne war ihre
Schönheit verflossen. Seine Hoffnung, dass ihre Anwesenheit
in der Nacht seine Träume vertreiben könnte, hatte sich
nicht erfüllt. Stattdessen erschien ihm erneut das Bild der
leerstehenden Fabrikhalle, in der seine Feinde auf ihn zukamen.
Immer der gleiche Traum quälte ihn mit dieser grässlichen
Vision, und immer die gleiche Stimme weckte ihn in den frühen
Morgenstunden: „Hinter dir, Micki, du hast einen Mann im Rücken.
Gib Acht auf den Mann im toten Winkel!“
Michael glaubte nicht an Träume. Wenn du erst anfängst,
auf Schatten zu achten, dachte er, kannst du endgültig einpacken.
Du tust nichts Unrechtes, du holst dir nur, was dir zusteht. Es
ist nur eine Frage der Verteilung. Weil es nicht fair ist, verurteilt
zu werden, während andere mit viel schmutzigeren Händen,
als du sie hast, im Licht stehen. Du kannst auch ehrgeizig sein.
Du wirst es ihnen beweisen. Außerdem, denk doch nach, du hast
jetzt nichts mehr zu verlieren.
Sie kamen in der Abenddämmerung, nachdem er zwei volle Stunden
in dem kleinen Schuppen auf sie gewartet hatte. Am vorigen Tag hatte
er sich vergeblich dort verkrochen. Nachdem sie alle in der Halle
waren und das Tor hinter sich geschlossen hatten, zündete er
die in Benzin getränkte Schnur und hechtete hinüber zum
Rangierbahnhof, wo der alte Mercedes mit dem falschen Nummernschild
bereitstand. Der Motor zündete auf Anhieb. „Hast gute
Arbeit geleistet, Andi“, flüsterte Michael leise, während
er versuchte, seine Gedanken zu konzentrieren. Langsam rollte er
auf das Tor zu und stoppte in einem Abstand von zirka fünfzig
Metern – er konnte nicht mit Sicherheit kalkulieren, wie stark
die Sprengladung tatsächlich war. Die Möglichkeit, mit
dem Pulver einen seiner Gegner zu zerfetzen, war nicht unbedingt
ausgeschlossen. Aber die Explosion war bei weitem nicht so gewaltig,
wie er sie sich vorgestellt hatte, und sie sprengte auch nur die
rechte Torhälfte. Zum Glück war das Loch groß genug,
dass Michael problemlos hindurchfahren konnte. Das eingeschaltete
Fernlicht blendete die drei Dealer in dem fensterlosen Lagerraum.
Michael sprang aus dem Mercedes und feuerte zur Warnung einen Schuss
unter die Decke. Dann standen sie mit erhobenen Händen vor
ihm. In einer Tüte auf der Erde lag das Geld. Es ging alles
sehr schnell und als Michael direkt hinter sie trat, um ihre Kleider
nach Waffen abzutasten, die ihn gegebenenfalls an seiner Flucht
hätten hindern können, bemerkte er nicht, dass er plötzlich
vier und damit einen Mann mehr gegen sich hatte.
„Damit kommst du doch nie durch, du Hurensohn. Unsere Hintermänner
lassen dich keine fünfzig Kilometer weit kommen.“ Einer
der Dealer, scheinbar ihr Mann aus Holland, wie Michael aus seiner
Sprache schloss, versuchte ihm Angst zu machen, aber hatte keine
Ahnung, wie gut Michael sich informiert hatte. Es gab in dieser
Stadt nämlich überhaupt keine weiteren Hintermänner.
„Sei still“, befahl ihm also der Mann mit der Waffe.
„He, dich kennen wir doch!“ Eduard Neumann, der Messerstecher,
war erst durch Michaels Stimme aufmerksam geworden, denn sein Gesicht
war durch die blendenden Scheinwerfer des Wagens nicht eindeutig
zu erkennen.
„Du bist der Typ, der mir damals das Messer abgenommen hat.
Was, zum Kotzen, hast du eigentlich vor? Leg dich doch nicht mit
Leuten an, denen du nicht gewachsen bist, Kleiner. Ich geb’
dir einen Rat ...“
„Halt's Maul, Eddy“, unterbrach ihn der Mann aus Holland.
Michael nahm die Tüte mit dem Geld und warf sie auf die Rückbank
des Wagens.
„Der erste, der seinen Kopf aus dem Tor steckt, bevor zehn
Minuten vergangen sind, wird in Zukunft keinen Kopf mehr haben“,
warnte er sie, stieg in den Mercedes, dessen Motor er hatte laufen
lassen, und verschwand durch das zerfetzte Tor über den Hof
in Richtung des Güterbahnhofes.
„Der hat keinen zweiten Mann“, meinte Simon Cordes,
„es gibt niemanden, der uns dort draußen den Kopf vom
Leib schießen könnte, weil er das Ding allein gedreht
hat. Das war sein Fehler. Wir kriegen ihn dran, wir werden an ihm
ein Exempel statuieren, einen Präzedenzfall schaffen!“
Die übrigen, geblufften Dealer sahen ihn verständnislos
an. Sie begriffen nicht. Simon Cordes war der vierte Mann, der Mann
hinter Michaels Rücken. Der Mann, den er nicht gesehen hatte
und der ihm zum Verhängnis werden sollte.
Der Strafvollzug
Schließlich kam es hinter diesen Mauern nicht
auf Persönlichkeitsentfaltung an, sondern darauf, Menschen
zu belehren, zu verändern, wenn nötig auch zu brechen.
Das sollte klar sein, – für jeden, der erst einmal hier
gelandet war. Begangene Fehler zählten hier nicht mehr, auch
ging es nicht um Moral, denn die Menschen, die jahrelang hier freiwillig
arbeiteten, dachten praktischer: Ein Gefängnis ist eine geschlossene
Herberge mit ziemlich miesem Milieu, also ein Betrieb, der ebensogut
wie jeder andere geführt sein will. Die Ansprüche der
Kunden beschränken sich auf physische Gesundheit. Darüber
hinaus hat jeder für sich selbst zu sorgen. Disziplin ist unumgänglich
notwendig.
[...]
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Die Justiz
So geriet Michael in das Räderwerk des Strafvollzugs,
dem er sich ohne jede Bedingung zu fügen hatte. Und er störte
während seines Aufenthaltes im Exil der Gesellschaft die dortige
Ordnung kaum. Ihn brauchten sie nicht mehr zu brechen, das hatten
andere bereits erledigt. Sein Freund Andreas Raiter, der ihn dort
noch oft besuchen kam, wusste das. Er hatte es im Gerichtssaal knacken
gehört, als Micki noch einmal die Gelegenheit nutzte, sich
zu seinem Urteil zu äußern.
„Sie haben mich hereingelegt“, hatte Michael gesagt,
„ich war der Dieb in zweiter Reihe, wollte ungesetzlich erworbenes
Geld stehlen, weil mir selbst so viel verloren gegangen war. Ich
wollte meinen Anteil am Leben ? einmal, Wenn ihr wüsstet, wie
verstrickt alles war, dann könnten ihr es vielleicht verstehen.
[...] Euer Strafgesetzbuch steht auf steinernem Fundament, zum Zweck,
das Zusammenleben zu ordnen, aber es ignoriert die Realität
des Lebens, die sich aus Tausenden von Schicksalen, Gefühlen,
Hoffnungen und Träumen, Tränen und Fehlschlägen zusammensetzt.
Menschen sind keine Klötze, die sich nach Vorschriften bewegen
lassen, sondern individuelle Seelen, die in erster Linie durch ihr
Überleben und gegenseitige Liebe motiviert sind. Die wirklichen
Impulse zu analysieren, das könnte allenfalls Aufgabe von Psychiatern
sein, aber niemals das Werk einer ignoranten Justiz. Denn wenn ihr
Gerechtigkeit wirklich schaffen könntet, wären Strafen
überflüssig, weil es keine Straftäter mehr gäbe!“
Der Richter hatte Michael ermahnt, das hohe Gericht nicht zu duzen.
Das vermeintliche Schicksal
Nach allem, was geschehen war, konnte nur ein einziger
unter ihnen die traurige Entwicklung vom ersten bis zum letzten
Freund wirklich verfolgen und richtig einschätzen. Denn nur
ein einziger unter ihnen war nicht aus seinen gewohnten Lebensverhältnissen
herausgerissen worden. Es war der Mann vom Schrottplatz, dessen
zu Hause gleichzeitig die Heimat der Clique war. Er allein musste
den schleichenden Bruch miterleben, ohne dass sich seine eigenen
Lebensumstände zunächst verändert und Abwechslung
gebracht hätten. Er hatte alles vom Anfang bis zum Ende erlebt
und verstanden, wie Missverständnisse wirkten und sich in vermeintliches
Schicksal verwandelten. Im Gegensatz zu seinem toten Freund Micki
begriff er, dass es sich nicht um tragische Vorsehung handelte,
sondern dass alles entstandene Leiden das Resultat menschlicher
Handlungen war, die meist unbewusste Gefühle, aber manchmal
auch erbarmungslos logische Gedanken hervorriefen. Babsis seelische
Depression, Bastians körperliches Handicap und Mickis Tod waren
für Andreas die sichtbaren und unsichtbaren Folgen von Verirrungen.
Es war weder ein trauriger Zufall noch Unfall, sondern die Folge
des törichten Irrtums, dass ihre Clique nichts wert sei. Sie
schien nichts hervorzubringen, keine Erfolge, keine Anerkennung
von außen. Sie hatten sich alle getäuscht. Sie hatten
den wahren Wert ihrer Freundschaft nicht erkannt. Und weil Andreas
sehr lange darüber nachgedacht hatte, während er an den
langen Winterabenden auf seinen verlassenen und verlorenen Schrottplatz
starrte, glaubte er auch erkannt zu haben, warum diese alten, treuen
Bande so sehr anfällig gewesen waren. Ihre Clique war nämlich
viel mehr als ein Club, in dem sich Menschen zusammentun, weil sie
gemeinsame Interessen pflegen. Es ging bei ihnen um sehr viel mehr.
Sie brauchten einander. Ein Jeder von ihnen stand für die Gesellschaft
irgendwie im Abseits, war irgendwie nicht angepasst genug oder zu
unvernünftig, um in der Öffentlichkeit Erfolg und Anerkennung
zu erringen. Ehrgeiz, Disziplin, Ordnung und Beständigkeit,
die sich im Alltag der meisten Menschen spiegelten, waren einige
der gesetzten positiven Werte, die sie alle nicht erfüllen
konnten. Die Macht der Mehrheit stand ihnen intolerant entgegen
und verlangte Anpassung. Andreas erkannte, dass, wenn man die jeweiligen
Situationen und Verhältnisse ihrer Lebenserfahrungen abstrahierte,
die Vorwürfe, die sie von den Etablierten dieser Gesellschaft
zu hören bekommen hatten, sich auf einen gemeinsamen Nenner
bringen ließen: Die Unvernunft, die man Babsi immer zum Vorwurf
gemacht hatte, anstatt mit ihr über Probleme zu reden, war
dieselbe, die Michaels Arbeitgeber ihm bei seiner Entlassung vorgeworfen
hatte und die sein Vater ihm immer vorhielt. Bastians Erzieher hatten
von demselben geredet, als sie Anpassung in die Heimordnung verlangten,
die oft genug über das wirklich nötige Maß hinaus
und in die Privatsphäre hineinreichte. Sich mit den Ideen des
Establishments zu identifizieren, das andere Vorgaben machte und
alternative Lebensweisen nicht akzeptierte, das gelang niemand von
ihnen. Allein auf diesem Schrottplatz fand ein jeder von ihnen die
Möglichkeit, individuell zu sein und trotzdem nicht allein
bleiben zu müssen. Dort auf diesem Schrottplatz war Nicole
die talentierte Künstlerin, deren Talent niemand an ihrem Erfolg
maß, dort war Babsi das süchtige Mädchen, das ernst
genommen wurde, dort war Bastian der Chaot, den niemand in eine
Ordnung zu zwängen versuchte, dort war der Assistent der Sozialforscher,
dem seine Freunde in Wirklichkeit mehr Achtung entgegenbrachten
als er sich selbst, und dort war schließlich Micki, der für
keinen von ihnen jemals ein Möbelverkäufer gewesen war.
Aber diese Freiheit ihrer Freundschaft war zu leicht verwundbar,
weil es zu viele andere Stimmen gab, die jeden Tag an ihr Ohr dröhnten.
Und das größte Argument gegen sie war das Anderssein
der Mehrheit. Die Mehrheit kann sich doch nicht so leicht irren
wie wenige Einzelne! Auch jene spießigen Kollegen Nicoles,
die sich über ihren arbeitslosen Freund lustig machten, der
so blöd war, ohne ein alternatives Stelllenagebot zu kündigen,
waren solche Stimmen. Alle erklärten Micki für verrückt
und zwar so lange, bis Nicole, selbst plötzlich die Möglichkeit
des eigenen Erfolgs ahnend, ebenfalls ihrem Freund Unrecht gab.
Einfach in den Sack hauen, ohne eine weitergehende Perspektive zu
haben! Das ist doch total schräg! Es war dieselbe Mehrheit,
die Micki später zu Gefängnis verurteilte.
Aber Micki war anders, hatte sein wirkliches Ziel noch gar nicht
gefunden gehabt, als er sein Leben beendete. Eines stand für
Andreas fest: Hätte die Clique an sich selbst geglaubt, wie
sie es lange Zeit getan hatte, hätte sie an dem guten Vertrauen
und der Ehrlichkeit ihrer Freundschaft festgehalten, hätten
sie ihr vermeintliches Schicksal anders formen können.
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