Bibliothek Helmut H. Brand

 Präsentation selbsverfasster Prosatexte

 

Home

Romane

Drama

Kinderbuch

Stories

Ipressum

Kontakt

 

Vermeintliches Schicksal

Blutrot – Textauszüge

Download

Der Überfall

Vermeintliches SchicksalBevor Nicole in dieser Nacht einschlief, dachte sie an Micki zurück, erinnerte sich an schöne Stunden mit ihm und den anderen und überlegte, was er in Zukunft mit seinem Leben anfangen würde. Zur selben Zeit lag Michael Michaelis in einem unruhigem Schlaf neben dem Mädchen, das er in jener Bar kennen gelernt hatte. Ohne Schminke und im Schein einer nackten Glühbirne war ihre Schönheit verflossen. Seine Hoffnung, dass ihre Anwesenheit in der Nacht seine Träume vertreiben könnte, hatte sich nicht erfüllt. Stattdessen erschien ihm erneut das Bild der leerstehenden Fabrikhalle, in der seine Feinde auf ihn zukamen. Immer der gleiche Traum quälte ihn mit dieser grässlichen Vision, und immer die gleiche Stimme weckte ihn in den frühen Morgenstunden: „Hinter dir, Micki, du hast einen Mann im Rücken. Gib Acht auf den Mann im toten Winkel!“
Michael glaubte nicht an Träume. Wenn du erst anfängst, auf Schatten zu achten, dachte er, kannst du endgültig einpacken. Du tust nichts Unrechtes, du holst dir nur, was dir zusteht. Es ist nur eine Frage der Verteilung. Weil es nicht fair ist, verurteilt zu werden, während andere mit viel schmutzigeren Händen, als du sie hast, im Licht stehen. Du kannst auch ehrgeizig sein. Du wirst es ihnen beweisen. Außerdem, denk doch nach, du hast jetzt nichts mehr zu verlieren.

Sie kamen in der Abenddämmerung, nachdem er zwei volle Stunden in dem kleinen Schuppen auf sie gewartet hatte. Am vorigen Tag hatte er sich vergeblich dort verkrochen. Nachdem sie alle in der Halle waren und das Tor hinter sich geschlossen hatten, zündete er die in Benzin getränkte Schnur und hechtete hinüber zum Rangierbahnhof, wo der alte Mercedes mit dem falschen Nummernschild bereitstand. Der Motor zündete auf Anhieb. „Hast gute Arbeit geleistet, Andi“, flüsterte Michael leise, während er versuchte, seine Gedanken zu konzentrieren. Langsam rollte er auf das Tor zu und stoppte in einem Abstand von zirka fünfzig Metern – er konnte nicht mit Sicherheit kalkulieren, wie stark die Sprengladung tatsächlich war. Die Möglichkeit, mit dem Pulver einen seiner Gegner zu zerfetzen, war nicht unbedingt ausgeschlossen. Aber die Explosion war bei weitem nicht so gewaltig, wie er sie sich vorgestellt hatte, und sie sprengte auch nur die rechte Torhälfte. Zum Glück war das Loch groß genug, dass Michael problemlos hindurchfahren konnte. Das eingeschaltete Fernlicht blendete die drei Dealer in dem fensterlosen Lagerraum. Michael sprang aus dem Mercedes und feuerte zur Warnung einen Schuss unter die Decke. Dann standen sie mit erhobenen Händen vor ihm. In einer Tüte auf der Erde lag das Geld. Es ging alles sehr schnell und als Michael direkt hinter sie trat, um ihre Kleider nach Waffen abzutasten, die ihn gegebenenfalls an seiner Flucht hätten hindern können, bemerkte er nicht, dass er plötzlich vier und damit einen Mann mehr gegen sich hatte.
„Damit kommst du doch nie durch, du Hurensohn. Unsere Hintermänner lassen dich keine fünfzig Kilometer weit kommen.“ Einer der Dealer, scheinbar ihr Mann aus Holland, wie Michael aus seiner Sprache schloss, versuchte ihm Angst zu machen, aber hatte keine Ahnung, wie gut Michael sich informiert hatte. Es gab in dieser Stadt nämlich überhaupt keine weiteren Hintermänner.
„Sei still“, befahl ihm also der Mann mit der Waffe.
„He, dich kennen wir doch!“ Eduard Neumann, der Messerstecher, war erst durch Michaels Stimme aufmerksam geworden, denn sein Gesicht war durch die blendenden Scheinwerfer des Wagens nicht eindeutig zu erkennen.
„Du bist der Typ, der mir damals das Messer abgenommen hat. Was, zum Kotzen, hast du eigentlich vor? Leg dich doch nicht mit Leuten an, denen du nicht gewachsen bist, Kleiner. Ich geb’ dir einen Rat ...“
„Halt's Maul, Eddy“, unterbrach ihn der Mann aus Holland.
Michael nahm die Tüte mit dem Geld und warf sie auf die Rückbank des Wagens.
„Der erste, der seinen Kopf aus dem Tor steckt, bevor zehn Minuten vergangen sind, wird in Zukunft keinen Kopf mehr haben“, warnte er sie, stieg in den Mercedes, dessen Motor er hatte laufen lassen, und verschwand durch das zerfetzte Tor über den Hof in Richtung des Güterbahnhofes.
„Der hat keinen zweiten Mann“, meinte Simon Cordes, „es gibt niemanden, der uns dort draußen den Kopf vom Leib schießen könnte, weil er das Ding allein gedreht hat. Das war sein Fehler. Wir kriegen ihn dran, wir werden an ihm ein Exempel statuieren, einen Präzedenzfall schaffen!“
Die übrigen, geblufften Dealer sahen ihn verständnislos an. Sie begriffen nicht. Simon Cordes war der vierte Mann, der Mann hinter Michaels Rücken. Der Mann, den er nicht gesehen hatte und der ihm zum Verhängnis werden sollte.

Der Strafvollzug

Schließlich kam es hinter diesen Mauern nicht auf Persönlichkeitsentfaltung an, sondern darauf, Menschen zu belehren, zu verändern, wenn nötig auch zu brechen. Das sollte klar sein, – für jeden, der erst einmal hier gelandet war. Begangene Fehler zählten hier nicht mehr, auch ging es nicht um Moral, denn die Menschen, die jahrelang hier freiwillig arbeiteten, dachten praktischer: Ein Gefängnis ist eine geschlossene Herberge mit ziemlich miesem Milieu, also ein Betrieb, der ebensogut wie jeder andere geführt sein will. Die Ansprüche der Kunden beschränken sich auf physische Gesundheit. Darüber hinaus hat jeder für sich selbst zu sorgen. Disziplin ist unumgänglich notwendig.
[...]

 

Die Justiz

So geriet Michael in das Räderwerk des Strafvollzugs, dem er sich ohne jede Bedingung zu fügen hatte. Und er störte während seines Aufenthaltes im Exil der Gesellschaft die dortige Ordnung kaum. Ihn brauchten sie nicht mehr zu brechen, das hatten andere bereits erledigt. Sein Freund Andreas Raiter, der ihn dort noch oft besuchen kam, wusste das. Er hatte es im Gerichtssaal knacken gehört, als Micki noch einmal die Gelegenheit nutzte, sich zu seinem Urteil zu äußern.
„Sie haben mich hereingelegt“, hatte Michael gesagt, „ich war der Dieb in zweiter Reihe, wollte ungesetzlich erworbenes Geld stehlen, weil mir selbst so viel verloren gegangen war. Ich wollte meinen Anteil am Leben ? einmal, Wenn ihr wüsstet, wie verstrickt alles war, dann könnten ihr es vielleicht verstehen. [...] Euer Strafgesetzbuch steht auf steinernem Fundament, zum Zweck, das Zusammenleben zu ordnen, aber es ignoriert die Realität des Lebens, die sich aus Tausenden von Schicksalen, Gefühlen, Hoffnungen und Träumen, Tränen und Fehlschlägen zusammensetzt. Menschen sind keine Klötze, die sich nach Vorschriften bewegen lassen, sondern individuelle Seelen, die in erster Linie durch ihr Überleben und gegenseitige Liebe motiviert sind. Die wirklichen Impulse zu analysieren, das könnte allenfalls Aufgabe von Psychiatern sein, aber niemals das Werk einer ignoranten Justiz. Denn wenn ihr Gerechtigkeit wirklich schaffen könntet, wären Strafen überflüssig, weil es keine Straftäter mehr gäbe!“
Der Richter hatte Michael ermahnt, das hohe Gericht nicht zu duzen.

Das vermeintliche Schicksal

Nach allem, was geschehen war, konnte nur ein einziger unter ihnen die traurige Entwicklung vom ersten bis zum letzten Freund wirklich verfolgen und richtig einschätzen. Denn nur ein einziger unter ihnen war nicht aus seinen gewohnten Lebensverhältnissen herausgerissen worden. Es war der Mann vom Schrottplatz, dessen zu Hause gleichzeitig die Heimat der Clique war. Er allein musste den schleichenden Bruch miterleben, ohne dass sich seine eigenen Lebensumstände zunächst verändert und Abwechslung gebracht hätten. Er hatte alles vom Anfang bis zum Ende erlebt und verstanden, wie Missverständnisse wirkten und sich in vermeintliches Schicksal verwandelten. Im Gegensatz zu seinem toten Freund Micki begriff er, dass es sich nicht um tragische Vorsehung handelte, sondern dass alles entstandene Leiden das Resultat menschlicher Handlungen war, die meist unbewusste Gefühle, aber manchmal auch erbarmungslos logische Gedanken hervorriefen. Babsis seelische Depression, Bastians körperliches Handicap und Mickis Tod waren für Andreas die sichtbaren und unsichtbaren Folgen von Verirrungen. Es war weder ein trauriger Zufall noch Unfall, sondern die Folge des törichten Irrtums, dass ihre Clique nichts wert sei. Sie schien nichts hervorzubringen, keine Erfolge, keine Anerkennung von außen. Sie hatten sich alle getäuscht. Sie hatten den wahren Wert ihrer Freundschaft nicht erkannt. Und weil Andreas sehr lange darüber nachgedacht hatte, während er an den langen Winterabenden auf seinen verlassenen und verlorenen Schrottplatz starrte, glaubte er auch erkannt zu haben, warum diese alten, treuen Bande so sehr anfällig gewesen waren. Ihre Clique war nämlich viel mehr als ein Club, in dem sich Menschen zusammentun, weil sie gemeinsame Interessen pflegen. Es ging bei ihnen um sehr viel mehr. Sie brauchten einander. Ein Jeder von ihnen stand für die Gesellschaft irgendwie im Abseits, war irgendwie nicht angepasst genug oder zu unvernünftig, um in der Öffentlichkeit Erfolg und Anerkennung zu erringen. Ehrgeiz, Disziplin, Ordnung und Beständigkeit, die sich im Alltag der meisten Menschen spiegelten, waren einige der gesetzten positiven Werte, die sie alle nicht erfüllen konnten. Die Macht der Mehrheit stand ihnen intolerant entgegen und verlangte Anpassung. Andreas erkannte, dass, wenn man die jeweiligen Situationen und Verhältnisse ihrer Lebenserfahrungen abstrahierte, die Vorwürfe, die sie von den Etablierten dieser Gesellschaft zu hören bekommen hatten, sich auf einen gemeinsamen Nenner bringen ließen: Die Unvernunft, die man Babsi immer zum Vorwurf gemacht hatte, anstatt mit ihr über Probleme zu reden, war dieselbe, die Michaels Arbeitgeber ihm bei seiner Entlassung vorgeworfen hatte und die sein Vater ihm immer vorhielt. Bastians Erzieher hatten von demselben geredet, als sie Anpassung in die Heimordnung verlangten, die oft genug über das wirklich nötige Maß hinaus und in die Privatsphäre hineinreichte. Sich mit den Ideen des Establishments zu identifizieren, das andere Vorgaben machte und alternative Lebensweisen nicht akzeptierte, das gelang niemand von ihnen. Allein auf diesem Schrottplatz fand ein jeder von ihnen die Möglichkeit, individuell zu sein und trotzdem nicht allein bleiben zu müssen. Dort auf diesem Schrottplatz war Nicole die talentierte Künstlerin, deren Talent niemand an ihrem Erfolg maß, dort war Babsi das süchtige Mädchen, das ernst genommen wurde, dort war Bastian der Chaot, den niemand in eine Ordnung zu zwängen versuchte, dort war der Assistent der Sozialforscher, dem seine Freunde in Wirklichkeit mehr Achtung entgegenbrachten als er sich selbst, und dort war schließlich Micki, der für keinen von ihnen jemals ein Möbelverkäufer gewesen war. Aber diese Freiheit ihrer Freundschaft war zu leicht verwundbar, weil es zu viele andere Stimmen gab, die jeden Tag an ihr Ohr dröhnten. Und das größte Argument gegen sie war das Anderssein der Mehrheit. Die Mehrheit kann sich doch nicht so leicht irren wie wenige Einzelne! Auch jene spießigen Kollegen Nicoles, die sich über ihren arbeitslosen Freund lustig machten, der so blöd war, ohne ein alternatives Stelllenagebot zu kündigen, waren solche Stimmen. Alle erklärten Micki für verrückt und zwar so lange, bis Nicole, selbst plötzlich die Möglichkeit des eigenen Erfolgs ahnend, ebenfalls ihrem Freund Unrecht gab. Einfach in den Sack hauen, ohne eine weitergehende Perspektive zu haben! Das ist doch total schräg! Es war dieselbe Mehrheit, die Micki später zu Gefängnis verurteilte.

Aber Micki war anders, hatte sein wirkliches Ziel noch gar nicht gefunden gehabt, als er sein Leben beendete. Eines stand für Andreas fest: Hätte die Clique an sich selbst geglaubt, wie sie es lange Zeit getan hatte, hätte sie an dem guten Vertrauen und der Ehrlichkeit ihrer Freundschaft festgehalten, hätten sie ihr vermeintliches Schicksal anders formen können.

Zurück zur Präsentationsseite