Die
weiße Logik
Der Trunksucht letzter Schluss
Inhalt / Worum es geht
Bis
zu seiner Begegnung mit der Droge steht der junge Harald immer außen
vor. Der vermeintliche Konkurrenzkampf mit seinen Brüdern lässt
ihn zaudern und nährt seine Angst davor, am Leben teilzunehmen.
Aus sicherer Entfernung beobachtet er seine Mitmenschen, die Spielkameraden,
später die Mitschüler. In einem Augenblick der Unachtsamkeit
beleidigt er seinen Lehrer und es kommt zum Eklat, der ihn plötzlich
in den Mittelpunkt des Geschehens stellt. Der aufflackernde Mut
löst sein erstes Gelage aus, in Gesellschaft mit seinem Kameraden
Hein: ein prägendes Ereignis, das zum Fundament einer langen
Freundschaft wird.
„Der Rausch wurde stärker – Harald
und Hein wurden Freunde. Ja, als der tapfer hinuntergewürgte
Alkohol Harald vollends ins Blut schoss, brach die Larve auf. Zum
ersten Mal plauderte er rücksichtslos, ohne Vorbehalt, ohne
Respekt, einfach so. Jetzt wollte er seinem Kameraden nichts mehr
beweisen, stand nicht in Konkurrenz zu irgendjemandem, sondern sah
in seinem lallenden Gegenüber den ersten wahren Freund und
Leidensgenossen. Ein grelles, weißes Licht blendete ihn angenehm,
als er fühlte, wie ihn der Alkohol ins Leben stupste. Harald
plumpste hinein ins satte Wohlbefinden, ebenso wie er zum Abschluss
der ersten Sauforgie völlig umnebelt von der Sessellehne fiel.“
Harald lernt, dass der Alkohol eine Macht ist, ein gewaltiger Dämon,
der ihm hilft, ins Leben einzutauchen, teilzunehmen an den Dingen,
die da um ihn herum vorgehen. Sein Erlebnisraster wird gespalten
in betrunken und nüchtern – teilnehmen oder im Abseits
stehen. Er fällt längst noch nicht aus dem Rahmen, sondern
verharrt zunächst weiterhin bescheiden in seiner Ecke. Aber
die Erfahrung ist nun einmal da, und er weiß, dass es das
Elixier gibt, den Stoff, der seine Träume Wirklichkeit werden
lässt.
„Bisher hatte es nur ein Leben gegeben, ungespalten
homogen, weder positiv noch negativ, weder schön noch hässlich,
sondern einfach nur das einzig bekannte, mittelmäßige
Dasein. Und plötz-lich konnte er dieser Realität eine
andere entgegensetzen, eine vom Rausch verzerrte, bizarre Welt,
die der vom Alkohol ge-streichelte Verstand kreierte. Der Gegensatz
zwischen seinen Tagträumen und der durchlittenen Realität
übertrug sich auf eine neue Schablone, die dasselbe Entweder-oder-Prinzip
mit anderen Argumenten besetzte: entweder nüchtern oder betrunken.“
Der Oberschüler Harald ist Idealist. Ein nach Gerechtigkeit
schreiender Rebell. Während des ersten Semesters an der Uni
steht Harald am Zenit seiner Selbstüberschätzung. Jetzt,
so glaubt er, beginnt das Leben – und er will es in vollen
Zügen saufen. Alles oder nichts.
„Es folgen die schönen Jahre im Sonnenschein
der Illusionen, die Harald sich auf sein Banner schrieb, nachdem
er die Flügel entfaltet und hochmütig trunken, scheinbar
vor allen niederen Anfechtungen gefeit, ins Leben hinaustrat, teilzunehmen
an den Dingen, die da um ihn herum vorgingen. Frisch ans Werk, Harald,
Du bist jung, Du bist gesund, prost.“
Doch dann schlägt das Schicksal ein und zertrümmert den
Wehrlosen, der nicht einmal ahnte, wie wehrlos er war. Die Freundin
lässt ihn fallen und die Gesellschaft fordert ihren Tribut
mit der Einberufung zum Wehrdienst. Harald versteht die Welt nicht
mehr, verwirft allen Idealismus und entlarvt das Leben als einen
nichtigen Kompensationsprozess, in dem alles nur dem Art-erhaltungstrieb
gehorcht. Alle Ideale dienen jetzt in Wahrheit nur dem Überleben
der Gattung. Sie wurden ritualisiert, um das Ego zu unterdrücken.
„Und da war es wieder, dieses komische Ideal,
von dem sie alle schwärmten, während er verständnislos
danebenstand, und das nun ihm, ausgerechnet ihm, der in diesem Ideal
ein Gefängnis sah, zum bitteren Verhängnis wurde. Treue
- sie alle wollten Treue, forderten Moral und Anstand vom Zivilisten
und dem Geliebten, befahlen den Schwur zur Treue dem Soldaten und
dem Ehemann, wenn er denn Ehemann sein wollte. Aber schwören
hieß abschwören, abschwören von eigenen Bedürfnissen.
Denn warum sonst sollte je ein Mensch auf die Idee kommen, etwas
zu beeiden, was ohnehin sein unumschränktes Interesse war?“
Deshalb will Harald, der Materialist, Betriebs- und Volkswirt-schaftslehre
studieren, mit dem einzigen Ziel, sich sein Leben möglichst
bequem einzurichten. Denn mehr gab es nicht zu er-warten.
Aber er muss scheitern. Überall sieht er das Leben nur noch
als ein von unbedingten Regeln gelenktes Spiel. Die erbärmliche
Sinnlosigkeit lähmt ihn. Er steigt hinab in die Gosse, lernt
die Kakerlaken der Gesellschaft kennen, asoziales Gesocks, und sieht,
dass deren Leben auch nicht schlechter, sondern eben nur anders
ist – in einer anderen sozialen Nische.
„Seine vermeintlichen Abwege machten ihn
mit zwei für ihn neuen Phänomenen bekannt: der Existenznot
und den Menschen, die mit dieser Existenznot zu leben verstanden.
Die waren anders als Harald. Die waren hart, sarkastisch, abgebrüht,
roh und nur auf eines trainiert: durchzuhalten und mitzumachen bei
allem, was sich bot und darauf hoffen ließ, die existenziellen
Bedingungen zu verbessern. Typen wie diese, Typen wie Charlie, Frankiboy
und Dago gab es zu Tausenden. Sie waren Hoch-stapler, Ignoranten
gegenüber ihrem eigenen Schicksal, das nichts weiter war, als
eine endlose Kette von Bruchlandungen.“
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Noch einmal rafft er sich auf, als Kellner in einer Bar, wo er
sich wieder aufs Beobachten einstellt und seine Gäste wie Puppen
erlebt, die ein Rollenspiel aufführen. Jeder Mensch hat seine
Geschichte, die er unter dem Einfluss von Alkohol schamlos preisgibt.
Jeder lebt und erlebt die Welt seiner eigenen Geschichte gemäß:
Der Verlierer verliert immer, der Gewinner nie. Und jeder soziale
Kontakt ist Puppenspiel.
„Nicht weniger dramatisch war das Wehklagen
jener Kundin, der die Jahre zu schaffen machten, die an ihrem Sockel
nagten, auf dem sie sich so lange hatte präsentieren können.
Die ganze Schminke in ihrem Gesicht hatte auch nicht darüber
hinweg-täuschen können, dass ihre Blütezeit zu Neige
ging. Das Fleisch wurde welk ...
Harald grinste, polierte derweil die Gläser und dachte an die
erbarmungslose Wechselwirkung von Angebot und Nachfrage, die seine
Kundin jetzt zum Ausverkauf nötigte. Die Ware geriet an die
Grenze ihres Verfalldatums. Das minderte die Anzahl der Interessenten.
Für Restposten zahlt man Schleuderpreise ...
Sie hatte die Rolle der Begehrenswerten gespielt. Nun war das Kostüm
verschlisse, und sie suchte verzweifelt nach einem neuen. Jetzt
war sie nicht mehr die Schöne, sondern die unschuldig Be-trogene.
Damit ließ sich leben. Es ist nicht ihre Schuld, dachte Harald.
Sie muss mir das sagen, dass ich, weil maskulin, ein Ge-fühlskrüppel
bin. Es gehört zu ihrer tragischen Geschichte.“
Dann tritt wieder eine Frau in sein Leben und Harald nimmt sie
ganz, – tauscht sie ein gegen die Flasche. Sie ist seine neue
Droge, seine Domina.
„Das Weib zog ihn in ihren Bann und die anstrengende
Freund-schaft begann mit einer Forderung ihrerseits: ‘Wenn
das mit uns beiden etwas werden soll, Harri, musst Du das Trinken
lassen. Ich habe keine Lust, einen alkoholsüchtigen Liebhaber
am Bein zu haben.’ Harald hätte ihr alles versprochen.
All seine Gedanken und Gefühle konzentrierten sich schlagartig
nur noch auf sie, was ihm im Kampf gegen seine Alkoholsucht scheinbar
un-gemeine Kräfte verlieh. Aber Harald war nicht verliebt,
auch wenn er es tausendmal beschwor und dabei vergaß, was
die Menschen wirklich taten, wenn sie schworen. Harald war ihr hörig.“
Aber schon längst ist Harald, der Trinker, zu weit in die
Extreme abgerutscht. Die einseitige Beziehung zerbricht und Harald
zieht sich vollends vom sozialen Geschehen zurück. In seiner
kleinen Bude läuft er auf und ab und doch im Kreis. Vereinsamt
be-obachtet er nur noch sich selbst. Er selbst wird zum Objekt,
das mit dem Subjekt verschmilzt. Die Reflexion seiner selbst führt
ihn in einen unlösbaren Zirkel, und endlich ist es Zeit für
die Ratte, so nennt er das Leben, sich von seiner wahren Seite zu
zeigen.
„Durch seinen angeduselten Kopf spürte
Harald ihre Nähe. Die nie endenden Enttäuschungen hatten
seine Sinne sensibilisiert. Er hörte sie kratzen und schaben
am Schimmer der Zivilisation. Er konnte ihren Gestank riechen, der
die Welt verseuchte. Gefräßig streifte sie durch seine
geistige Sphäre.“
Sie lehrt ihn die weiße Logik, das Denken im Kreis einer
Endlos-schleife. Jede Bedeutung wurzelt in Synonymie und jede Weisheit
beruht auf Bedeutung, bleibt stecken in einem unvollständigen
formalen System. Dort hinauszuspringen führt in die Rekursivität.
Er glaubt zu erkennen, dass Erkenntnis so nicht möglich ist,
und sieht doch den Widerspruch. Er weiß, dass es sinnlos ist,
aber welchen Sinn hat dieses Wissen?
„Ich bin gekommen, mich Dir zu zeigen, Harald.
Du kannst mich nicht töten. Du bist eine jämmerliche Kreatur.
Du weißt, dass es mich gibt, aber Du kannst Dich meiner nicht
erwehren. Ich zeige Dir Deine erbärmliche Eitelkeit, halte
Dir den Spiegel vor Dein der unweigerlichen Verwesung ausgeliefertes
Angesicht. Wer mich einmal gerochen hat, kann diesen Gestank nie
vergessen. Du verfolgst meine Spur überall. In allen Büchern,
in allen Formulierungen, die vermeinen, Weisheit zu offenbaren,
riechst Du den Gestank meines Urins, mit dem ich mein Revier markiere.“
Die weiße Logik, der Trunksucht letzter Schluss, zerbricht
Harald. Er kapituliert und meldet sich gehorsam zur Therapie.
Er überlebt es und macht endlich, nach all den vielen Jahren,
einen Schritt nach vorn: ’Weiter’ sagt die Ratte ’weiter’
ist eine Aufforderung und keine Aussage. Das Leben funktioniert
nicht mit einer Sprache, die die Kategorie der Aufforderungen außer
Acht lässt. Denn ohne Aufforderungen, ohne den argumentlosen
Befehl wäre kein Mensch in der Lage, trotz Leid, Elend, Not
und Tod weiterzumachen – weiterzuleben.
„Keine Kreatur könnte überleben,
wenn sie nicht zu verdrängen in der Lage wäre. Sie schauen
nicht hin, denn sie ahnen, dass diese Fragen sie zerstören
würden und sagen ’weiter’ und gehen weiter.“
Die Aufforderung ist der Schild gegen das Schicksal, damit es
den armen Wurm nicht bei erster Gelegenheit zerquetscht.
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