„Eisebad“
11 Kurzgeschichten • 52.180 Zeichen •
ca. 31 Buchseiten
Unsere Tochter Hannah ist drei Jahre alt. Sie ist tobsüchtig,
scheinheilig, unverdrossen, hartnäckig, egozentrisch und rabiat.
Ein aufgewecktes Kind eben, wie Eltern es sich wünschen. Sie
pocht auf ihre Rechte und belagert unser Heim. Seit ihrer Geburt
erfahre ich Tag für Tag, wie sie Anweisungen untergräbt
und uns eines Besseren belehrt. Sie ist dazu befugt, schließlich
hat sie mich zum Vater gemacht. Sie gibt meinem Leben Sinn. Sie
macht mich glücklich. Trotzdem bin ich froh, wenn sie eingeschlafen
ist.
„Wissen Sie, was eine ‘Eisebad’
ist? Nein, das können Sie nicht wissen. Es gibt nämlich
nur einen einzigen Menschen auf dieser großen Welt, der einmal
wusste, was das ist: meine Tochter Hannah im Alter von zwei Jahren.
Die „Eisebad“ ist ein Ding, das sich schlängelt
und reiht, ist die maximale Ableitung von dem, was wir – im
weitesten Sinn – unter einer Eisenbahn verstehen. Heute, ein
Jahr später, gibt es für sie lediglich noch feine Abstufungen
zu klären, was denn nun eine Straßen-, S- oder U-Bahn
von dem ursprünglichen Schienenklassiker unterscheidet. Sie
arbeitet daran. Aber die ‘Eisebad’ war eine XXL-Kategorie,
die alle verrückbaren Gegenstände umfassen konnte. Das
konnte ein Arrangement aus Stühlen, eine Linie aus Pommes frites,
eine Aneinanderreihung von Wattestäbchen oder die Polonaise
der Stofftiere sein. Eine Minimaldefinition für Millionen Exemplare,
ein Mammutbegriff, der in keinem Wörterbuch Platz fände.
Trotzdem sie dieses Ding in allen Variationen erschuf, hat sie es
längst vergessen. In unzähligen Anläufen von Versuch
und Irrtum ist sie dahintergekommen, was wir tatsächlich als
eine Eisenbahn bezeichnen. Sie hat niemals aufgegeben. Sie lässt
sich einfach nicht frustrieren. Vielleicht sollte ich ihr meine
Lohnsteuererklärung, die Bedienungsanleitung unseres Fernsehers
und die Stromabrechnung auf den Spieltisch legen. Diese Dinge hinterlassen
bei mir nämlich das Gefühl mangelnder Geduld und ungenügender
Frustrationstoleranz.“
Vor drei Jahren, als alles begann, war Hannah für mich ein
liebenswertes Bündel, das nur des Schutzes und der Pflege be-durfte.
Heute zappelt eine Persönlichkeit auf meinen Knien. Das zerbrechliche
Pflänzchen ist ins Kraut geschossen, nun wuchern die Triebe
in alle Richtungen. Oft genug bin ich fassungslos darüber:
Meine Tochter lebt drauflos, aufs Geratewohl, und lehrt mich, die
Dinge aus unmittelbarer Perspektive zu sehen, ungezähmt und
triebhaft, anarchisch eben, so, wie die Natur sie gebar.
Mir gegenüber genießt Hannah einen Vorsprung von minus
30 Jahren, in denen sie noch nicht lernte, sich zu zügeln,
zu bremsen, vernünftig zu sein, Fettnäpfchen zu umgehen,
Tränen zurückzuhalten und Unmut herunterzuschlucken. Von
ihr kann ich lernen, wie man das macht: Seine Gefühle respektieren.
„Der Weg ist
das Ziel“
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Soviel vorweg: Die Essenz meiner Betrachtungen be-leuchtet ein
und denselben Aspekt aus verschiedenen Perspektiven, in unterschiedlichen
Facetten. Es dreht sich letztlich in jeder Geschichte um die Fähigkeit
eines Kleinkindes, absolut im ‘Jetzt’ zu existieren.
Kleinkinder befinden sich in einem für uns Erwachsene nicht
mehr nachvollziehbaren gegenwärtigen Bewusstseinszustand. Meine
Tochter grämt sich nämlich weder um die Vergangenheit
noch macht sie sich Sorgen um die Zukunft. Und dieser Zustand versetzt
sie in die Lage, ein Lerntempo vorzulegen, von dem wir Erwachsene
nur noch träumen können. Wir sollten unseren Kindern wirklich
alle Aufmerksamkeit widmen und das nicht nur aus der Verpflichtung
zur Fürsorge, sondern auch, um mit unserem eigenen Alltag leichter
und besser zurechtzukommen. Es ist wahr: Kleinkinder können
uns belehren!
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